Die Psychologie der Massen im Wandel der Zeit

Die Ursprünge der Massenkommunikation liegen im späten 19. Jahrhundert. Die Werbung prägt seitdem unsere Kaufentscheidungen. Ein kurzer Blick vom Urpsprung bis zur Gegenwart.

Als Copywriter überzeuge ich Menschen von den Vorzügen von Produkten und Dienstleistungen. Da in meiner Branche Information und Manipulation eng beieinanderliegen, beschäftige ich mich mit den Begründern der modernen Massenkommunikation. Dazu gehe ich zurück zum Ursprung: Vorhang auf für die alten weißen Säcke und Säckinnen, die unsere Medienwelt verändert haben.

Propaganda sagt man nicht

„Propaganda“ ist ein böses Wort. Niemand würde heute von sich behaupten, Propagandist zu sein. Propaganda steht für den völkischen Beobachter, die Pravda oder der Funke. Aufgeklärte Demokratien fundieren darauf, dass sich mündige Bürgerinnen und Bürger auf die Objektivität einer freien Presse verlassen können. Es gibt immerhin ein überbordendes Angebot an Qualitätsmedien, aus denen man sich ein informiertes und strukturiertes Weltbild zimmern kann.

Oder etwa nicht?

Natürlich nicht. Wer sich auch nur ein bisschen mit Medien auseinandersetzt, weiß, dass das Medienangebot den menschlichen Geist in seiner Fülle überfordert. Die Masse des Angebots macht es leicht, Menschen bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu manipulieren. Das ist nicht erst in Zeiten von Facebook-Algorithmen der Fall: Bereits im frühen 20. Jahrhundert war das Angebot an Printmedien gewaltig.

Menschen werden und wurden bei jeder sich bietenden Gelegenheit manipuliert. Die meisten Medienschaffenden wissen auch, jedenfalls sollten sie es, dass Objektivität fast nie erreicht werden kann. Gatekeeper, Journalistinnen, Journalisten und Influencer sind auch nur Menschen, und als solche können sie subjektiven Einflüssen nicht immer widerstehen. Objektivität ist ein Ideal, an welches man sich annähern, aber nicht erreichen kann. Vor allem nicht, wenn der Mensch über das Individuum hinausgeht und als Masse auftritt.

Die Macht der Masse

Schicker Bart, schwerer Blick: Gustave Le Bon

Als einer der ersten setzte sich das französische Multitalent Gustave Le Bon in seinem Werk „Psychologie der Massen“ von 1895 mit den Mechanismen der Massenpsychologie auseinander. Sein Fazit ist ernüchternd: Während beim einzelnen Menschen Logik und Rationalismus möglich sind, bleibt die Masse als formbarer Block Emotionen, Verführungen und kleingeistlichen Schlussfolgerungen empfänglich. Die Masse erscheint in seinen Betrachtungen als großes Kind, welches mit Leichtigkeit manipuliert und gesteuert werden kann.

Das 19. Jahrhundert ist nicht um Beispiele verlegen, die diese Thesen bestätigen. Aber noch bevor die großen Propagandisten der jüngeren Vergangenheit auftraten, legte ein Mann den Grundstein für das, was überhaupt erst als Propaganda bekannt wurde. Edward Bernays, ein Urenkel eines gewissen Sigmund Freud, entwickelte ein Konzept für das, was heute als „Public Relations“ bekannt ist.

Nach ersten Versuchen der Publikumssteuerung im Auftrag der amerikanischen Regierung machte Bernays eine Entdeckung, die unsere Weltsicht und unser Konsumverhalten maßgeblich veränderten. Er erkannte, dass menschliche Kaufentscheidungen nicht von Logik gesteuert werden, sondern auch durch den Willen, sich selbst und seinen Status aufzuwerten. Wie sonst lässt sich zum Beispiel das Rauchen nicht als gesundheitsschädlich, sondern als Akt der Befreiung vermarkten?

Auch Frauen rauchen gerne: Werbung von Lucky Strike

Ich bin erfolgreich, also kaufe ich

Ein Auto in der Einfahrt zeigt, dass sich seine Fahrerinnen und Fahrer von A nach B bewegen können. Ein VW Käfer in der Einfahrt zeigt, dass seine Fahrerin und sein Fahrer individualisten sind, die vielleicht sogar erfolgreicher als der direkte Nachbar sind.

Ein Küchengerät von Hofer drückt aus, dass ein Mensch gerne kocht. Ein Thermomix von Vorwerk zeigt, dass ein Mensch nicht nur gerne kocht, sondern Wert auf Qualität legt und bereit ist, dafür ein paar Hunderter mehr abzudrücken.

Hier liegt die recht simple Logik des Bernays’schen Denken. In einer Welt aus mehr oder weniger identischen Produkten geht die Kaufentscheidung über die reine Funktionalität hinaus. Wer es schafft, die eigene Marke mit Gefühlen aufzuladen, hat einen Vorteil gegenüber den Mitbewerbern. Diese Geisteshaltung machte Bernays zu einem reichen Mann, der noch im hohen Alter mit vor Verschlagenheit blitzenden Augen von seinen Erfolgen sprach. Sein Wirken ist nicht auf den Bereich der PR beschränkt – auch die Werbung veränderte sich mit den Erkenntnissen der modernen Psychologie nachhaltig. Eine Doku der BBC zeigt diese Entwicklung recht anschaulich.

The Century of the Self, BBC, Part 1: Happiness Machine

Versprechen des Gücks

„Advertising is based on one thing: Happiness. Happiness is the smell of a new car. Happiness is a Billboard that scream with reassurance that whatever you are doing is OK. You are OK.“

Auch wenn dieser Satz von der fiktiven Werbelegende Don Draper stammt, ist er nicht weniger wahr. Draper basiert auf einer Reihe von berühmten Werbern wie Draper Daniels („Marlboro Mann“), Albert Lasker („Lucky Strike – It’s toasted“), George Lois („I Want my MTV!“) oder Bill Backer („I’d like to buy the world a Coke“). Auch Frauen, die mittlerweile zum Glück häufiger in den weniger verrauchten Besprechungszimmern der Agenturen anzutreffen sind, sorgten für Aufsehen. „It’s smart to be thrifty“ (Macy’s) stammt von Bernice Fitz-Gibbon. Shirley Polikoff fragte „Does she – or doesn’t she“ (Clairol) und veränderte das Bewusstsein amerikanischer Frauen nachhaltig. Und der „Axe-Effekt“ aus der Feder von Tiger Savage hatte tatsächlich Effekte auf eine Generation männlicher Teenager.

Diese Werbung schrieb Geschichte: Der berühmte Hilltop-Spot von Coca-Cola

Ob Just do it oder Black is beautiful, wir schaffen das oder Yes we can, Red Bull verleiht Flügel oder MAGA – alle diese Slogans schaffen es, ein Lebensgefühl ihrer Zielgruppe nicht nur zu beschreiben, sondern zu definieren. Indem sie die Möglichkeiten der modernen Massenkommunikation nutzten, prägten diese Werberinnen und Werber die Kaufgewohnheiten und Lebenseinstellungen von Menschen über Jahrzehnte. Das kann man Manipulation nennen – auch wenn diese Techniken nicht zur Aufstachelung zu Krieg und Völkermord, sondern zum Verkauf von Produkten angewendet wurden. Zur Formvollendung gelangte diese Methode natürlich mit dem Wandel von der analogen in die digitale Welt.

In digitalen Weiten

Selbst wenn man es diesen alten weißen Männern und Frauen gesagt hätte – sie hätten vermutlich nicht geglaubt, was junge Männer in Hoodies und Badeschlappen geschafft haben. Facebook, Google und Programmatic Advertising – die Werberinnen und Werber von damals würden ob den technischen Möglichkeiten der Moderne wohl in orgasmische Zuckungen verfallen.

Wir alle haben von Cambridge Analytica gehört. Wer Dominic Cummings („Vote Leave. Take Back Control“) nicht kennt, lege ich den Film „Brexit: The Uncivil War“ (2019) ans Herzen. Von Roger Stone bis Tal Silberstein lassen sich genug Beispiele aufzählen, die ein finsteres Bild der modernen Informationstechnologie zeichnen. Aber ist das gerechtfertigt?

Gegner von Ex-Präsident Donald Trump vergessen gerne, dass auch Barack Obama mit Big Data seinem Ziel entscheidend näher kam. Auch Bewegungen wie „Me Too“ und „Black Lives Matter“ verfolgen ehrenwerte Ziele, während sie sich denselben Mechanismen bedienen. Und Menschen wie ich, die für ihr Leben gerne schreiben, freuen sich über unendliche Möglichkeiten, um von ihren Talenten leben zu können.